Die große Gabe

Wenn es zwei Dinge gibt, derer wegen man sich der Menschheit in vielen Äonen erinnern wird – erinnern sollte – dann wird es unsere Musik sein und die Voyager Sonde. Beide zwingen zu dem einen Gefühl, welches vielleicht das Beste im Menschen ist. Unsere große Gabe zum Mitfühlen, zur Empathie. Musik vermag einen sinnlich einzuhüllen und teilhaben zu lassen, vermag das Geschenk des Lebens und der Erfahrung selbst zu geben. Musik ist der zarte Moloch, durch welche wir uns selbst aufgeben, verlieren können … gar soweit, um einen Hauch vom großen Ganzen zu erhaschen. Wer will diese Erfahrung leugnen in den Klängen von Mozart oder Beethoven?  Keine andere Kunstform vermag die Grenzen so zu sprengen, so zu überwinden wie die Musik. Die artistische Distanz, die einem andere Kunstformen aufzwingen, geht hier verloren. Es muss so sein, ansonsten wäre es keine Musik …

Doch es ist die Voyager Sonde – dieses konstruierte Weltding – dass, bei aller technischen Konstruktion, erst verständlich wird, wenn man sich in es einfühlt, obwohl es selbst ein empfindungsunfähiges Ding ist; das erst dann, wenn man diese Grenze zu überschreiten wagt, etwas über seine Kreatoren aussagt. Denn dieses Weltding Voyager sagt mehr über den Menschen aus, als jedes genetische Konstrukt auszudrücken vermag.

Er ist das Sinnbild des Menschseins schlechthin. Gerade hat es das Sonnensystem verlassen; die Zeit selbst überdauernd wird es mit unvorstellbarer Geschwindigkeit in der Dunkelheit reisen, wird das Ende unserer Sonne überdauern und uns als Menschen, ja wird – da es keine Widerstände erfährt – erst mit dem Ende der Zeit selbst zugrunde gehen. Es ist damit Sinnbild unseres tiefsten Wunsches … zu überdauern, die Zeit selbst zu meistern. Denn wer mit der Zeit selbst zugrunde geht, hat sie überwunden. Voyager wird bleiben, in welcher Form sich der Kosmos selbst bewirbt.

Interessanterweise trägt Voyager – die Reisende – vor allem eines mit sich: Musik. Es ist nicht nur Hallo für andere - außerirdische Wesen, die Chance ist zu gering.  Vielmehr ist Voyager der freie und reine Selbstausdruck – das Kind – einer Spezies, die sich selbst ihres Standpunktes bewusst geworden ist. Voyager, das bedeutet: Zu Hause sein im Universum.  Auf einer Reise bis zum Endpunkt der Zeit gibt es keine Errungenschaft, kein Konstrukt, die das Mitgefühl mehr erzwingt als dieses Weltding. In der Unendlichkeit der Zeit können wir mit ihr mitfühlen, und es ist gerade die Ereignislosigkeit dieser Reise, die etwas über uns aussagt. Denn in der relativen Ereignislosigkeit des Alls wird die Reise zur Immersion der Fülle der Leere. Die Leere wird zur Fülle. Der Mangel an Phänomenen öffnet den Geist und erzwingt die Erfahrung des Ganzen.  Könnte Voyager fühlen, so wäre sie seit Langem erleuchtet.

Voyager ist damit das technisch realisierte Bewusstsein Buddhas. Der Ausdruck unserer Hoffnung, Ganz zu werden, indem wir Abstand gewinnen von den alltäglichen Ereignissen und das große Ganze zu erfahren vermögen. Erst indem wir das Alltägliche hinter uns lassen, erst indem wir das Ganze erfahren, können wir die Zeit überwinden, können teilhaben am göttlichen-evolutiven Plan. Voyager ist der Ausdruck der Hoffnung, irgendwann nicht mehr von den alltäglichen Ereignissen, von der Zeit, durchgeschüttelt zu werden. Auf der Reise sein.

In diesem Kontext öffnet sich eine Frage: Heißt Reisen eigentlich, stillzustehen? Ohne festen Ankerpunkt vermag Voyager eigentlich ebenso stillzustehen, wie durch den Raum zu drängen. Von ihrem Standpunkt dreht sich die Welt um sie, langsam, aber stetig. Sie erführe keine Bewegung, hätte sie die Gabe der Erfahrung. Von ihrem  Standpunkt wirkt es so, als altert sie nicht, und der stille Sternenschleier drehe sich langsam um sie herum. Es dürfte für sie keinen Unterschied machen, könnte sie wahrnehmen, und in dieser Indifferenz dem Sternenblinken gegenüber können wir die grundlegendste Eigenschaft unseres eigenen Daseins finden. Denn die Phänomene unseres Alltags haben – dass zeigte nicht zuletzt der ebenfalls ind en 70er Jahren entstandene Konstruktivismus – keine Bedeutung solange, bis wir ihnen Bedeutung zumessen. Sie ziehen an uns wie ein Sternenschleier vorbei, es sei denn, wir verharren an einem Ausschnitt, auf einer Perspektive, und binden sie zum Ganzen.  Wer Menschsein verstehen will, muss sich nur in Voyager einfühlen. Wir brauchen keine Narzissten zu sein, um zu erkennen: Aus gewisser, konstruktivistischer Perspektive dreht sich die Ereigniswelt stets um uns herum. Da ist ein Kern tief in uns, den diese Ereignisse nicht berühren können, der unwandelbar und scheinbar ewig gleich bleibt: Dieser tiefste Kern in uns, der unser grundlegendstes So-Sein ausmacht, der über Identitätsgefühl erst ermöglicht und unsere Beziehung zur Welt: Dies ist Voyager.

Es mag bezweifelt werden, dass die Ingenieure dies im Sinn hatten, als sie die ersten Blaupausen entwarfen. Aber wie das wissenschaftliche Wirken durch implizite Paradigmen bestimmt wird, wie auch unser Leben durch tief liegende Narrative geformt wird, so können wir nicht schöpfen, ohne gleichzeitig etwas über den Schöpfer und seine Weltauffassung auszusagen. Als interstellares Grußwortist und zeigt Voyager damit viel mehr, als jedes Buch zu sagen vermag. Denn sie ist metallgewordene Intention, nicht mehr, und auch nicht weniger.

Wir Menschen können uns nur reisend denken, obwohl wir selbst stillzustehen meinen. Dieses Paradox zu lösen ist nicht nur die Aufgabe unserer Weisheitstraditionen, sondern jedes kulturellen Unternehmens, der prinzipiellen Bedeutungslosigkeit unserer Existenz Sinn abzugewinnen.

Doch die wohl bedeutungsvollste Eigenschaft von Voyager besteht eben darin, dass sie nicht allein in der Einsamkeit des großen Dunkel reist, noch in einem Pulk von vielen, sondern dass sie einen Zwillingspartner hat, der einer anderen Drift unterliegt. Camus fliegende Wort …  gemeinsam einsam … findet hier eine ganz neue Bedeutung. Voyager I und II, das sind Ich und Du, verbunden und definiert in einem intersubjektiven Raum, das eine nicht ohne das andere denkbar: So gleich wir uns auch sind, werden wir immer einer unterschiedlichen Trajektorie folgen; eine Einsicht, die vielen Paartherapeuten helfen würde, das getrennte auf einen Nenner zu bringen. Wenn wir eine Übereinstimmung darüber finden, dass wir uns darin gleichen, unterschiedliche Wege zu haben – to agree to disagree – wären wir als Welt nicht ein Stück weiter? Hier konvergieren Weltraumtechnologie und Kulturepoche. Wäre Voyager denkbar ohne Psychoanalyse, Relativismus und Pluralismus? Man muss dies , auch unter Ausschluss technischer Fertigkeiten, stark bezweifeln. Den kleinen blauen Punkt am interstellaren Horizont zu erkennen, dies erfordert mehr als technisches Geschick. Es bedeutet, die essenzielle Begrenztheit der eigenen Existenz zu begreifen.

Doch was Voyager durch ihre Konstruktion und Reise vor allem zum Ausdruck bringt, ist das Symbol des Menschen in der Welt. Es ist, als wäre sie befreit von Allem und steht nackt dem Kosmos gegenüber. Und was sind wir Menschen mehr als einsame Reisende in einem unspezifischen Raum. Lässt man alle Gefühle und Gedanken, alle Konzepte und Modelle, alle Narrative und Episoden unsere Lebens weg und schaut in die Tiefe unserer Existenz, so müssen wir feststellen: Wir sind allein … oder um mit Camus zu sprechen: Wir sind gemeinsam einsam und stehen so der Welt gegenüber, manchmal im Licht, häufiger im Dunkel. Wer sind wir anderes als Voyager, die in der Distanz nur das Blinken der anderen Sterne wahrnehmen können.

Wir können die Leere füllen mit unseren Lebensentwürfen. Doch wer wollte in unserer postmodernen Zeit noch daran zweifeln, dass diese Weltentwürfe prinzipiell nicht nur kontingent und gleichwertig sind, sondern nur noch schwach die Tatsache verschleiern können, dass Leben darin besteht, diese Entwürfe als Immunstrategien aufrechtzuerhalten, um nicht in der Leere verlorenzugehen …  und nichts zu tun. Das Leben ist an sich sinnlos – so die Noetik – solange wir nicht selbst Sinn erzeugen und damit die Dichotomie des Absurden und Konkreten – oder wie es Eliade formulierte, das Heilige und das Profane am Leben zu erhalten. Tatsächlich kann für uns als Menschen das eine nicht ohne das andere Möglich sein, nur als sinnstiftende Beobachter können wir Ausflüge in das Absurde, in die kalte – oder sollte ich sagen: ekstatische – Leere wagen, um dann wieder zurückzukehren ins warme unserer Alltagsrealität und unbezahlter Rechnungen. Wer sich aus Neigung zur Flucht in der Komplexität der Welt verliert, war schon immer das Credo der spirituellen Disziplinen, solle mit Gartenarbeit anfangen.

Wie Sloterdijk bemerkte, geht es bei unseren weltlichen Raumfahrtversuchungen nicht nur – oder zumindest nur sekundär - um die Auswanderung ins All. All dies liegt in unserer Zukunft. Was uns die Raumfahrt als wirkliches Unternehmen zeigt, ist, wer wir Menschen sind. Hier gilt es, John Donne zu widersprechen: Jeder Mensch ist eine Insel, ganz in sich selbst, ein autopoietisch-selbstreferentiell funktionierender Organismus, der – für kurz oder lang – in der Dunkelheit überleben kann.

Tom AmarqueComment