Die 10 großen Fragen

Nur unentscheidbare Fragen kann man entscheiden (Heinz von Foerster)

Das Streben der Menschheit als Ganzes, einzelner Kulturen, Subkulturen sowie des Individuums basiert - mehr oder weniger explizit - auf 10 existentiellen ‚großen’ Fragen, sowie dem Versuch, diese zu beantworten. Jede Beantwortung bleibt ein Versuch, denn es ist das Wesen dieser Fragen, dass sie prinzipiell unentscheidbar sind. Unsere Vernunft reicht nicht aus, um sie zu beantworten – genau deshalb sind sie unentscheidbar. Sie sind nicht wirklich beantwortbar – gerade das macht sie zu den großen Fragen der Existenz. Man kann sich nur stets an eine Beantwortung annähern. In diesem Sinne spiegelt sich in dem Versuch, diese Fragen zu beantworten, das menschliche Streben als solches, ihrem Drang zu wachsen, über sich hinauszuwachsen und Gutes zu tun. Und genau deshalb formt jede näherungsweise Beantwortung dieser unentscheidbaren Fragen in reflexiver Weise Individuum, Kultur und Subkultur.

Unsere Kultur, mit all ihren Subsystem, Subkulturen, Matrizen, Philosophien und Weltanschauungen sind nicht als der Versuch, diese 10 großen Fragen zu beantworten. Wissenschaft, Religion, Kunst, Liebe, Wirtschaft, Politik etc basieren auf diesen Fragen und haben das unentscheidbare entscheidbar gemacht. Doch auf wenn diese Matrizen vorgeben, die 10 großen unentscheidbaren Fragen beantwortet zu haben, sind sie dennoch nur eine Annäherung. Die 10 Fragen sind niemals vollständig zu beantworten. 

Jeder kennt diese Fragen und jeder wird sie hier erkennen, wenn sie formuliert sind. Der Einfachheit halber möchte ich diese 10 Fragen in 3 Gruppen unterteilen. Die erste Gruppe von Fragen bezieht sich auf die Natur des Universums, die zweite Gruppe auf die Natur des Geistes und die dritte Gruppe auf die Natur der Beziehung zwischen diesen beiden. Folgend ein kurzer Überblick.

Die erste große Frage ist also die nach dem Wesen des Universums. Was ist die Natur dieses Universums? Dies ist eine Frage, die mit der Bewusstwerdung des Menschen emergiert, der beginnt, seine Umwelten zu untersuchen. Diese Umwelten können biologischer, physikalischer, wirtschaftlicher, sozialer etc. Natur sein. Der Mensch untersucht die Natur und deckt Gesetzmäßigkeiten und Strukturen dieses Universums auf.  Diese Frage führt in langer Hinsicht zur Institutionalisierung der Wissenschaft durch die Tradierung und Ausdifferenzierung wissenschaftlichen Denkens. Und diese Frage nach der Natur des Universums ist deshalb unentscheidbar, weil diese Suche nach den Gesetzmäßigkeiten, Elementen und des Wesens des Universums niemals enden oder vollständig sein wird. Man wird immer neue Aspekte des Universums aufdecken können.

Auch die zweite große Frage bezieht sich auf dieses Universum. Sie lautet: Woher kommt dieses Universum? Es ist deshalb eine unentscheidbare Frage, weil wir niemals wissen können, was vor dem Big Bang war. Es entzieht sich auch unserer Vernunft, wie ein ganzes Universum in einem kleinen Punkt passt. Dennoch können wir diese Frage entscheiden. Wir können Gott als Ursache dieses Universums annehmen, oder die Vorstellung eines pulsierenden Universums, dass sich entfaltet und wieder in sich zusammenfällt und dann wieder mit einem Urknall neu beginnt oder 1000 andere mögliche ‚Ursachen’. Doch die Unentscheidbarkeit bleibt: Woher stammt dieses Universums? Glaubenskriege toben um diese Frage, denn diese Frage kreist auch darum: Woher kommen wir, gibt es auch intelligentesLeben auf anderen Planeten und wie wahrscheinlich oder unwahrscheinlich ist unsere Existenz?

Die dritte große Frage, und die letzte der ersten Gruppe, geht in die andere Richtung: Wohin wird dieses Universum gehen? Wieso ist diese Frage wichtig? Sie ist deshalb wichtig, weil mit ihr einhergeht: Wird die Menschheit als Rasse und Teil dieses Universums überleben, will we make it? Wir müssten fast ewig leben, um diese Frage beantworten zu können. Wir können Modelle über die Richtung des Universums oder der Menschheit formen. Wir können ethische Richtlinien zu unserem Überleben entwerfen, wir können streben, als biologische Wesen, als Rasse zu überleben. Doch Wissen wird man es nur, wenn man es tatsächlich beobachtet, wenn wir es tatsächlich geschafft haben. In unseren religiösen, philosophischen wie wissenschaftlichen Bestrebungen wird die Bedeutungen dieser zweiten wie dritten Frage offenbar. Und es zeigt sich, dass eine Beantwortung der zweiten Fragen auch nahe legt, wie wir Frage drei beantworten. Denn wenn wir entscheiden, woher wir kommen, wissen wir auch, wohin wir gehen.

Während sich somit die erste Gruppe von Fragen um Außenansichten und Perspektiven zu einem manifesten Universum drehte, dreht sich die zweite Gruppe von Fragen um Innenansichten. Während wir das Universum wie von außen begreifen wollen und nur Außenansichten erzeugen können – was sind die Gesetzmäßigkeiten von Neutronenstrahlung, wie funktionieren Neurone, welche Verhaltensweisen zeigt mein Nachbar etc. – so kann ich vom Geist nur subjektive Innenansichten erzeugen.

Die vierte große Frage fragt also nicht mehr nach dem manifesten und lokalen Universum, sondern nach der viel subtileren und nonlokaleren Domäne des Geistes: Was ist Geist? Damit einhergehend: Was ist Seele, was ist Psyche und was ist Bewusstsein? Und vor allem: Wer bin ich? Diese Frage ist hochkomplex in seiner Natur, vor allem wegen folgendem Zusammenhang: Geist (und aller mit ihm zusammenhängenden Phänomene wie Bewusstsein, Psyche etc.) scheint sich dem Wort und der Vorstellung dessen zu beugen, der sie beschreibt. Denn mit unseren Beschreibungen fügen wir dem Geist ein weitere Vorstellung hinzu: Folglich bleibt unsere Beschreibung von Psyche oder Bewusstsein immer unvollständig. Es ist unmöglich, Geist, Psyche und Bewusstsein vollständig zu erfassen – ebenso unmöglich, wie das Universum vollständig zu erfassen. Zu komplex ist unser Innenleben. Und doch führt der stete Versuch, dies zu tun, zur Psychologie, zur Kunst und zur Idee der Evolution der Psyche, des Bewusstseins und dem Drang, die menschlichen Potentiale herauszufinden und zu kristallisieren. Der Versuch, die Frage ‚Wer bin ich?’ zu beantworten ist eine der größten Motivationen der Menschheitsentwicklung und Geschichte. Und gleichzeitig ist sie niemals vollständig zu beantworten, weil wir uns immer weiterentwickeln.

Die fünfte große Frage bezieht sich auf den Ursprung des Geistes: Woher kommt Geist? Damit einhergehend: Woher komme ‚ich’? Wie entsteht ‚ich’? Emergiert Geist als ein Epiphänomen aus materiellen Prozessen? Oder ist Geist schon immer da? Kann man Bewusstsein erweitern und wenn ja wie? Wie entsteht überhaupt Bewusstsein über etwas? Wozu entsteht Psyche? All diese Fragen sind hoch subjektiv – entgegengesetzt zu den ‚objektiven’ Fragen der ersten Gruppe. Und auch deshalb sind sich niemals vollkommen wissbar. Man müsste eine objektive Außenansicht über die Emergenz von Psyche oder ‚ich’ haben, um diese Frage zu beantworten, kann indes nur subjektive Innenansichten erzeugen. 

Die sechste große Frage bezieht sich auf die Richtung geistiger Prozesse: Wohin geht Geist/Psyche/Bewusstsein? Damit einhergehend: Was geschieht mit Geist/Psyche/Bewusstsein, wenn mein Körper stirbt? Wohin gehe ich? Diese Frage ist deshalb unentscheidbar und eine große Frage, weil wir erst sterben müssen, um sie zu beantworten. Und doch scheint es ‚mir’ manchmal eine der wichtigsten Fragen überhaupt zu sein. Was geschieht, wenn ich sterbe?

Dies waren die 2 Gruppe von Fragen. Die dritte Gruppe von Fragen versucht, eine Einheit aus subjektiven und objektiven, äußerlichen und innerlichen Fragen zu geben, versucht, Universum und Geist miteinander in Beziehung zu setzten. Häufig wird diese Einheit aus Geist und Universum einfach nur KOSMOS genannt.

Die siebte große Frage (und die erste der dritten Gruppe) lautet also: Was ist die Beziehung von Universum und Geist. Was ist Kosmos? Wie ist die Einheit ALLER Phänomene beschaffen? Nicht selten wird über diese Frage gestritten oder Krieg geführt. Manche leugnen Geist (z.B. materialistische Wissenschaftler), andere leugnen die Evidenz des Universums (z.B. philosophische Solipsisten). Dazwischen gibt es hunderte von philosophischen Spielarten, diese Frage zu klären. (Die sogenannte integrale Perspektive nimmt an, dass alle Spielarten gleichermaßen wahr sind)  Und diese Klarung und Beantwortung formt immer wieder unsere kulturelle und persönliche Geschichte.

Auch die achte große Frage bezieht sich auf diese Beziehung zwischen Universum und Geist: Was ist die Bedeutung und Funktion meiner Psyche, meines Bewusstseins, meiner Seele in diesem Universum? Was ist mein Platz im Universum, was ist meine Aufgabe? Sie ist unentscheidbar: Es gibt niemanden, der einem sagen könnte, was die eigene Aufgabe ist, noch steht dies irgendwo geschrieben. Doch diese unentscheidbare Frage zwingt uns, unser Leben selbst in die Hand zu nehmen. Welche Beziehungen gehen wir ein, welche Taten wollen wir tun. Daher ergeben sich aus dieser achten großen Frage unmittelbar die Fragen acht und neun:

Die neunte große Frage lautet: Was ist Liebe? Damit einhergehend: Wie kann ich lieben? Wen soll ich lieben? Wen darf ich lieben? Für wen soll ich etwas tun? Unsere gesamte sexuelle Sozialisierung basiert auf dieser Frage. Es ist das Mehr an Liebe, wonach das Individuum sich immer sehnt, gebend oder nehmend, egal wie fortschrittlich oder erleuchtet so ein Individuum ist. Denn durch die Liebe transzendieren wir uns und stellen eine Bindung zwischen Geist und Universum her.

Die zehnte große Frage lautet: Was ist Wille? Was soll ich tun? Zu welchem Zweck soll ich etwas tun. Die Frage, die damit zusammenhängt: Werde ich durch meine Handlungen überleben. Sie meine Handlungen passend und können sie mein Überleben sichern? Auch durch den Drang, diese Frage zu beantworten, stellen wirt eine Beziehung zwischen Geist und Universum her. Und genauso wie bei der neunten Frage werden wir auch diese niemals eindeutig und für immer beobachten können. Wir müssen leben, um zu überleben. Wir können nicht im Vorfeld wissen, ob wir erfolgreich sein werden. Wir müssen immer weiter suchen, uns immer wieder neu entscheiden, immer neue Pfade gehen, uns überraschen lassen vom dem Kosmos und seinen Wundern, die auf uns zukommen.

Tom AmarqueComment