Was können wir wollen?

Wir sind in den Willen Geworfene. Und wir müssen uns gerade deshalb jeden Moment unseres Lebens damit abfinden, dass die Empfindung der Freiheit des Willens womöglich eine Illusion ist. Wir vermögen jeden Moment zu denken, dass es unser freier Wille ist, durch den wir unseren Lebensentwurf, unsere Lebenspraxis und unser Weltbild differenzieren, und müssen doch immer wieder feststellen, dass so vieles eben doch nicht in unserer bewussten Hand liegt. Wer hat nicht schon die Erfahrung gemacht, dass man trotz aller Bemühungen und Intention dennoch dieselben Wege und Krisen, dieselben Perspektiven und Dramen durchlebt wie seine Eltern. Ich bin mein Vater. Ich bin meine Mutter. (Oder alternativ: „Sie tat alles, um nicht zu sein wie ihre Mutter; doch schau, sie ist nun genau so!“) Man mag versuchen, diese Erfahrung zu leugnen, doch umso mehr man dies versucht, umso intensiver holt sie einen ein. Unser Geist, so sagte einst Peter Sloterdjik, gleicht einem Maschinenraum, der zu 99,9 % ohne unser bewusstes Tun seine Routinen ‚autopoietisch‘ abspielt, und dabei die Illusion erzeugt, wir würden dies aus freiem Wille tun. Was mit den anderen 0,1 % ist? Nun, wir werden sehen.

Im Hinblick auf diesen – zum größten Teil schon in unser Kindheit konditionierten – Bereich von Verhalten ist es natürlich nur legitim zu fragen, was wir überhaupt im Kontext von Freiheit Wollen können? (Denn Wille ist nicht ohne Freiheit denkbar) Die Frage ist freilich so alt wie die Philosophie selbst. Und ich will nicht so tun, als hätte ich irgendeine Antwort parat. Und doch will ich versuchen, mich aus einer anderen Richtung einer möglichen Antwort anzunähern.

Denn was besonders auffällt, sind die Weisen unserer Kultur, diese Frage gewissermaßen en passant zu klären. Sie schafft damit Illusion, dass diese Frage, was wir wollen können, leicht zu beantworten wäre. Und womöglich ist es das auch für den ‚Menschen der Straße‘. Für die Hochseilartisten aber – wie (nochmals) Sloterdijk sie nennt – die Philosophen und Künstler des Seelischen, wird sie umso komplizierter, je mehr man sich mit ihr beschäftigt. Vielleicht – und auch diesen Frage-Mut muss man aufbringen – ist die Frage selbst die Illusion, geboren aus einer bestimmten Form von Wahnsinn. Ebenso wie die Frage nach der Realität der Realität: Dass sie fest und wirklich ist, wird niemand bezweifeln, der sich seinen kleinen Zeh an der Tür bricht; umso unwirklicher und flüchtiger erscheint sie bekanntlich, je mehr man über sie nachdenkt. Das ist die ganze Crux der Angelegenheit. Man sollte Philosophen wahrscheinlich als professionelle Wahnsinnige begreifen … aber ich komme vom Thema ab.

Womöglich also ist die Freiheit unseres Willens eine Tatsache und alltägliche Erfahrung, an der es für die für den Menschen in der Dorfschänke (oder im modernen Sprachgebrauch: jener, der sich bei Facebook einloggt), nichts zu bezweifeln gibt. Denn – wie gesagt – Kultur bietet viele Weisen und Antworten auf die Frage an, was wir wollen können, und tut dies auf fast unverschämt lapidare Art. Dabei müsste jeder einigermaßen intelligente Mensch schon frühzeitig in seinem Leben die Erfahrung gemacht haben, dass es nicht schon sehr schwer ist, überhaupt zu wissen, was man was man will, sondern ebenso schwerer, seinen Willen tatsächlich zu verwirklichen. Was also kann man wollen?

Wir leben in einer Gesellschaft, in der ein Großteil seiner Mitglieder dieser Frage ausweicht und beantwortet, indem durch soziale Tradierung und Konditionierung die denkbar einfachsten ‚Werte‘, die gewählt und gewollt werden können, auch gewählt werden: Familie und Haus, Geld und Status, Anerkennung und manchmal Ruhm. Freilich hängt an dieser modernistisch-kapitalistisch-säkularen Denkweise alles am Geld. Und vielleicht sollten die Ökonomen der Zukunft versuchen, den eigentlich Wert desselben mal daran zu bemessen, inwieweit es die Illusionen bietet oder bieten kann, uns vor existenzieller Sinnlosigkeit und dem dräuenden Nichts durch ein kleines güldenes Funkeln zu beschützen: Geld, das Licht in der Dunkelheit: Je mehr, desto heller … vielleicht von nicht ungefähr kommt die Redewendung, ‚keinen Heller mehr zu haben‘. Wenn wir schon nicht wissen, was wir in der Dunkelheit machen können, so haben wir doch zumindest das äußere und innere Funkeln, was wir in den Augen eines jeden dickbäuchigen Geschäftsmannes sehen können, der uns seinen Erfolg vorschmatzt. Erfolg heißt hier freilich nichts anderes, als die Frage nach der Freiheit des Willen-Könnens ein für allemal beantwortet zu haben. Oder so ähnlich.

Seit spätestens der 60er Jahren kamen komplexere Dinge und Werte hinzu, die man wollen kann (vorausgesetzt man kann) … Gemeinwohl, Umwelt & Naturschutz, Reisen (durch die Öffnung nationaler Grenzen), Frieden, Selbsterkenntnis, Selbstentfaltung, persönliche Grenzüberschreitung … all die schönen Dinge, die so Common Sense sind, dass jeder, der ihnen widerspricht, nicht nur ein Idiot sein muss, sondern die durch ihre Allgemeingültigkeit darüber hinwegtäuschen, dass die eigentlich Frage, nämlich was in Freiheit gewollt werden kann, dadurch nicht besser beantwortet wird als bei unserem Geschäftsmann, gerade, weil diese Werte mittlerweile so tradiert und konditioniert sind, dass hier von einer Freiheit des Willens gar nicht mehr die Rede sein kann; der ökobewusste Veganer gleicht damit seinem zeitgeistigen Artgenossen dem Hipster, der in seinem Versuch, irgendwie originell und individual zu sein, genauso konform ist wie alle anderen.

(Entschuldigung, aber die verdammten Hipster sind mir nur einen Satz wert!)

Wohl aufgrund dessen hat sich in den letzten Jahren eine Art innerem Unbehagen diesem Komplex von Fragen und Perspektiven zum Willen eingestellt. Man spricht nicht gerne über solche Angelegenheiten. Hinzu kommt, dass mit dieser Abwendung von ‚pluralistischen‘ oder auch ‚postmodernen‘ Werten eine weitere Tatsache offenbart hat, die weniger mit sozialen Faktoren zu tun hat, sondern mit der Binnenkontingenz und Komplexität der eigenen Psyche selbst. Hier dreht es sich freilich um die (Selbst-) Erkenntnis, dass es vom phänomenologischen Aspekt her keinen Unterschied macht, ob ich mich in Suhl oder St. Petersburg befinde, in Täbingen oder im Tibet, ob ich reich bin oder arm, schön oder hässlich, verheiratet mit sieben Kindern oder kinderlos. Dass es keinen wirklichen Unterschied macht, welches Hobby ich ausübe oder Job ich habe oder welche Grenzerfahrung ich mache oder welchen Lebensentwurf ich wähle oder welches Weltbild ich wähle. Wir wissen heute: Es wäre absurd, sich über einen konkreten Lebensentwurf zu definieren. Hinzu kommt: Jeder Entwurf bietet seine Probleme … als Beispiel sein die modernistische-romantische Vorstellung genannt, mit mehr ‚Geld‘ käme mehr Glück, eine Vorstellung, die zum Glück schon einigermaßen dekonstruiert wurde.

Oder allgemeiner: Jedes Weltbild versucht, Methoden anzubieten, sich gegenüber den Krisen und Dramen und dem existenziellen Nichts gegenüber zu immunisieren, sei es nun mit Geld, Selbsterkenntnis, oder ‚neuerdings‘ durch ein quasi evolutionäres Weltbild. Wir versuchen lediglich, uns gegen die Krisen und das Leid zu stemmen. Darin sind wir uns alle gleich. Und jemand, der ernsthaft glaubt, dauerhaftes Glück sei nicht nur möglich, sondern sogar wünschenswert, sollte man am Besten direkt in die Geschlossene einweisen.

Die Tatsache des anders-möglich-Seins also wirft uns in die Freiheit. Eine Antwort, wie wir damit umzugehen haben, bietet sie natürlich nicht. Wir müssen trotzdem herausfinden, was wir wollen, und wir müssen wissen können, ob wir diesen Willen – diesen Impuls (oder was auch immer es ist; ich will mich jetzt nicht in Definitionen ergehen!) – auch wirklich umsetzen können. Denn ist nicht der Wille erst ein Wille, wenn wir ihn verwirklichen können?

‚Kann ich wollen?‘ verfügt als Selbst-Frage dann über besagte zwei Aspekte, die man auch Agenz und Fähigkeit nennen könnte (… sehen sie, ich nähere mich ungewollt nun doch einer Definition an. Was ist nur los mit mir?) Es ist dieser Agenz, der Dunkelheit und dem Nichts durch willkürliche Akt der Sinnkonstruktion zu trotzen. Wir wissen, es ist immer auch anders möglich. Und dennoch ist da dieser geheime, ja subtile Zwang, etwas tun zu müssen. Ist er – dieser Erste Impuls – konditioniert durch unsere Geschichte, oder eine höhere Eingabe, höhere Passion? Ich vermag das freilich nur bei mir selbst zu bewerten, und selbst da nur mit Einschränkungen.

Wie ist es mit Ihnen, werter Leser?

  

Tom AmarqueComment